Der Geburtsschaden
Die meisten Kinder in Deutschland werden dank Pränataldiagnostik und Geburtshilfe sowie der postnatalen Überwachung gesund und munter geboren. Allerdings kommt es natürlich auch in allen drei Bereichen – also sowohl bei der Pränataldiagnostik als auch bei der Geburtshilfe als auch bei der Behandlung des Säuglings unmittelbar nach der Geburt – immer wieder Fehler. Diese haben natürlich sowohl für das betroffene Kind als auch für die Eltern erhebliche wirtschaftliche und psychische Folgen. Insoweit kann natürlich eine Entschädigung geltend gemacht werden.
Inhalt im Überlick:
- Geburtsschaden durch Sauerstoffmangel
- Weitere Behandlungsfehler im Rahmen von Schwangerschaft und Geburt
- Welche Rechte haben Kind und Eltern
- Summen, die bei einem Geburtsschaden zugesprochen werden kann
- Verjährung der Ansprüche auf Schadenersatz und Schmerzensgeld
1. Geburtsschaden durch Sauerstoffmangel
Eines der tragischsten und am häufigsten vorkommenden Probleme im Rahmen der Entbindung ist die Sauerstoffunterversorgung des Neugeborenen, auch „subpartuale Hypoxie“ oder „perinatale Asphxie“: genannt Sie führt zu schweren Hirnschädigungen (sog.“ hypoxisch – ischämischen Enzephalopathie“; kurz: HIE). In der Regel führt sie auch zur Schädigung anderer Organe. Darunter etwa die Lunge, Niere, Darm und Leber.
Es gibt verschiedene Ursachen für eine Sauerstoffunterversorgung im Rahmen der Geburt. So kann es sein, dass sich die Nabelschnur während des Geburtsvorgangs um den Hals legt oder aber, dass der Mutterkuchen das Ungeborene nicht mit ausreichend Sauerstoff versorgt.
Derartige Risiken sind aber dank der Pränataldiagnostik heute gut zu erkennen. Je nach Sachlage muss der Arzt entsprechende Maßnahmen einleiten um die Schädigung des Kindes im Rahmen der Schwangerschaft sowie der Geburt zu verhindern.
Natürlich können auch rein mechanische Vorgänge im Rahmen der Geburtshilfe Schäden am Neugeborenen verursachen. Namentlich bei dem Gebrauch einer Saugglocke oder aber bei fehlerhafter Nutzung einer Geburtszange.
Insbesondere bei Risikogeburten sind Ärzte und Hebammen gehalten, besonders sorgfältig zu arbeiten. So sind etwa ein enges Becken der Mutter, eine Mehrlingsschwangerschaft, Früh – und Spätgeburten als risikoerhöhende Faktoren durch Arzt, Krankenhaus und Hebamme zu berücksichtigen. Ebenso zu berücksichtigen ist das Lebensalter der werdenden Mutter. Bereits ab 35 Jahren ist von einer Risikoschwangerschaft auszugehen.
2. Weitere Behandlungsfehler im Rahmen von Schwangerschaft und Geburt
Wie bei jeder anderen Behandlung auch treffen den Arzt umfassende Aufklärungspflichten über bestehende Risikofaktoren. Dies insbesondere bei Risikoschwangerschaften. Wie stets in der Arzthaftung gilt auch hier, dass über die Behandlungsalternativen sowie deren Chancen und Risiken aufzuklären ist. Ein Verstoß gegen die Aufklärungspflicht ist begründet eine Haftung des Arztes, wenn eine ordnungsgemäße Aufklärung die Gebärende vor einen „ernsthaften Entscheidungskonflikt“ gestellt hätte.
In der nachfolgenden Liste finden Sie eine Reihe typischer Behandlungsfehler die den Geburtsschäden zuzuordnen sind:
- unterlassene Aufklärung oder verspätete Indikation zur Sectio (Kaiserschnitt) z. B. bei überlanger Austreibungsphase, Plazentaruptur
- Fehler bei der Behandlung sogenannter Risikoschwangerschaften – beispielsweise bei Fruchtwasseranomalien, Plazentainsuffizienz, vorzeitiger Plazentaablösung oder einer fehlerhaften Reaktion auf Plazentasprung (Blasensprung)
- Nichterkennen von Extrauteringravidität (ektope Schwangerschaft) wie Tubenschwangerschaften, Bauchhöhlenschwangerschaften oder Eileiterschwangerschaften
- fehlerhafte bzw. unterlassene Missbildungsdiagnostik (und der zugehörigen Aufklärung)
- Nichterkennen von Schwangerschaftsdiabetes (Gestationsdiabetes, Typ-4-Diabetes)
- verspätete Reaktionen auf Infektionen, Thrombosen Sepsis, HELLP-Syndrom, Polyhydramnion)
- Fehler bei der Geburtseinleitung durch Medikamente (etwa Cytotec, Misoprostol) Cytotec wird gelegentlich außerhalb seines zugelassenen Anwendungsbereichauch im Rahmen der Geburtseinleitung genutz; sog“ off-label use“)
- unterlassene oder fehlerhafte CTG-Auswertung (Kardiotogogramm; gleichzeitige Messung der Herztöne des Babys und der Wehentätigkeit der Mutter)
- unterlassene oder fehlerhafte Auswertung der Mikroblutuntersuchung
- verspätete oder Nichtverlegung in ein Perinatalzentrum bzw. Vollversorger oder unterlassene Herbeirufung eines Konsiliararztes
- nicht erkannte Lageanomalie (z. B. Steißlage, Beckenendlage)
- fehlerhafte Reaktion auf Schulterdystokie ((Kristeller, McRoberts, Woods, Dammschnitt)
- Plexusparesen (obstetrische Plexuslähmung); Verletzung des Armnervengeflechts
- fehlerhafte Sterilisation (Tubenligatur)/Vasektomie sowie unzureichende Aufklärung bei Sterilisation/Vasektomie
- fehlerhaft durchgeführte Periduralanästhesie (PDS) mit Gesundheitsschädigung oder Tod der Mutter
3. Welche Rechte haben Eltern und Kind
Liegt ein Geburtsschaden aufgrund eines Behandlungsfehlers vor, so sind die finanziellen aber auch die immateriellen Schäden in der Regel umfangreich. Je nachdem wer den Behandlungsfehler zu verantworten hat, richten sich die Ansprüche gegen die Hebamme, den behandelnden Arzt, das Krankenhaus oder das Geburtshaus.
Schadenersatz bei Geburtsschäden
Nach einem Geburtsschaden können erhebliche finanzielle Belastungen auf die Eltern zukommen. Insoweit gilt bei Geburtsschäden (wie im gesamten Schadensersatzrecht) der Grundsatz der Naturalrestitution. Der Schädiger soll durch das schädigende Ereignis (hier also dem Behandlungsfehler vor, während oder unmittelbar nach der Geburt) wirtschaftlich weder besser noch schlechter gestellt werden als er ohne das schädigende Ereignis gestanden hätte. Um das finanzielle Ausmaß der Schädigung zu bemessen bedarf es recht umfangreicher Berechnungen. Wie viel das im konkreten Fall ist, hängt also vom Einzelfall ab. Ein Anwalt für Geburtsschäden hilft Ihnen da gerne weiter.
Im Einzelnen werden die folgenden Schadenspositionen im Fall der Haftung relevant:
Mehrbedarfsschaden
In der Regel werden weitere Behandlungen, Pflege und Arzneimittel erforderlich. Ebenso müssen unter Umständen Umbaumaßnahmen am Haus oder am Auto vorgenommen werden
Verdienstausfallschaden
Gleichzeitig kann es zur Pflege des Kindes erforderlich werden, dass Verdienstausfall bei einem der Elternteile (oder auch beiden) entsteht. Hier wird in der Regel die modifizierte Nettomethode des BGH in Ansatz gebracht. Berechnet wird also der theoretische Nettolohn, in Abzug davon gebracht werden Sozialleistungen mit Lohnersatzfunktion. Die auf den verbleibenden Nettoschaden anfallende Einkommensteuer wird hinzugerechnet). Als Schadensersatz geltend gemacht wird sodann der Bruttoschaden.
Haushaltsführungsschaden bei Geburtsschäden
Darüber hinaus kann ein sogenannter Haushaltsführungsschaden entstehen. Streng genommen ist er Teil des materiellen Schadensersatz, Aufgrund seiner Eigenarten wird der Haushaltsführungsschaden jedoch stets neben dem Schadensersatz und dem Schmerzensgeld eigenständig berechnet.
Durch diese Schadensposition wird der finanzielle Aufwand ersetzt, der dadurch entsteht, dass regelmäßig zur weiteren ordnungsgemäßen Haushaltsführung ergänzende Arbeitskräfte (etwa Putzfrau) beschäftigt werden müssen. Allerdings ist nicht jeder Haushalt in der Lage, tatsächlich gesonderte Arbeitskräfte einzustellen. Die Rechtsprechung wollte jedoch verhindern, dass der Schaden nur von Eltern in Anspruch genommen werden kann, die finanziell in der Lage sind, weitere Haushaltskräfte einzustellen. Vor diesem Hintergrund ist der Haushaltsführungsschaden auch dann (fiktiv) abrechenbar, wenn keine gesonderte Hilfskraft eingestellt wird. Insoweit können Sie sich durch einen Rechtsanwalt beraten lassen.
Schmerzensgeld bei Geburtsschäden
Die Schwere des gesundheitlichen Schadens und der daraus resultierenden Folgen, wie die Dauer der Behandlung, Umfang der Hilfebedürftigkeit oder auch der Verlust an Lebensqualität sind entscheidend für Höhe des Schmerzensgeldes . Nach der Rechtsprechung des für Arzthaftungsverfahren zuständigen VI. Senats des BGH kommt dem Schmerzensgeld eine Genugtuungs- und Sühnefunktion zu. Bei schweren Schädigungen darf es sich daher nicht nur eine symbolhafte Zahlung sein (BGH 13.10.1992; Az.: VI ZR 201/91 Verlust der Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit durch Fehler des Geburtshelfers). Regelmäßig herangezogene Kriterien sind etwa Alter des Geschädigten und die Schwere der Schäden sowie der daraus resultierenden Beeinträchtigungen. Unter Umständen können auch die Art, wie sich der Geschädigte oder seine Haftpflichtversicherung mit der Angelegenheit befassen, d.h. ob sie die Zahlung von Schadenersatz verweigern oder unnötig in die Länge ziehen mit heranzuziehen sein. Ein weiterer wesentlicher Baustein ist der der Grad des Verschuldens des Schädigers und natürlich die Zukunftsprognose.
4. Wie hoch sind die Summen, die bei einem Geburtsschaden zugesprochen werden ?
Der Schadensersatz ist abhängig von den wirtschaftlichen Folgen des Behandlungsfehlers durch Arzt, Krankenhaus oder sonstigen Geburtshelfers. Insoweit kann ein Anwalt für Geburtsschaden Ihnen diesbezüglich in Abhängigkeit vom Einzelfall nähere Auskünfte erteilen.
Wie viel Schmerzensgeld anfällt variiert natürlich in Abhängigkeit von der Schwere der Beeinträchtigung.
So hat etwa das LG Marburg in einer Entscheidung vom 07.06. 2000 bei einer Schädigung des Nervus peronaeus 10.000 EUR Schmerzensgeld ausgeurteilt. Der Geschädigte musste in Folge des Behandlungsfehlers lediglich 18 Monate lang entsprechende Schienen tragen. Ebenso entschied das OLG Düsseldorf am 19.12.1996, dass 10.000 EUR für eine geringfügige Einschränkung des der Beweglichkeit des linken Armes ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 EUR zugesprochen. Angesichts der Inflation die seit den Urteilen eingetreten ist, wären diese Summen entsprechend dem Kaufkraftverlust anzupassen.
Bei einer geburtstraumatischen Plexusparese (Lähmung des Armes – im vorliegenden Fall jedoch nur in geringer Ausprägung) in Verbindung mit einer globalen Kraftminderung wurden 30.000 EUR Schmerzensgeld für den Geburtsschaden zugesprochen (OLG Köln 23.01.2019; 5 U 69/16). Hintergrund war eine Schulterdystokie).
Ebenfalls eine Schulterdystokie zum Hintergrund hatte eine Entscheidung des OLG Celle vom 25.02.2010 (OLG Celle 11 U 108/08): Dort wurden 45.000 EUR Schmerzensgeld zugesprochen. Dort waren die Folgen deutlich stärker ausgeprägt als in dem Fall, dass das OLG Köln zu entscheiden hatte.
In der Regel werden für hirnorganische Schäden mit erheblichen Folgen Schmerzensgelder zwischen 250,000 EUR und 500.000 EUR ausgeurteilt (vgl. etwa: (vgl. nur OLG Köln, Urt. v. 5.12.2018 – 5 U 24/18;OLGG Hamm, Urt. v. 21.3.2017 – 26 U 122/09; OLG Stuttgart, Urt. v. 9.9.2008 – 1 U 125/07)..
Das Landgericht Gießen hat das in seinem Urteil vom 06.11.2019 das höchste bekannte Schmerzensgeld ausgesprochen (.https://openjur.de/u/2260821.html). Namentlich wurden insgesamt 800.000 EUR Schmerzensgeld zugesprochen
Insoweit wird hier aus dem Urteil zitiert:
„Bei der Bemessung des Schmerzensgelds hat die Kammer in erster Linie die schwerwiegenden Verletzungsfolgen für den Kläger und die Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigungen in Ansatz gebracht. Durch die etwa 25-minütige Sauerstoff-unterversorgung während der Operation am hat der Kläger einen schweren hypoxischen Hirnschaden erlitten. Er leidet an einem apallischen Syndrom und einer spastischen Tetraparese. Hinzu kommen eine posthypoxische Epilepsie, der nahezu vollständige Verlust des Sprechvermögens (Aphasie), eine Schluckstörung (Dysphagie), eine chronische Gastroparese mit rezidivierendem Erbrechen sowie wiederkehrende Darmverschlusszustände (Subileus). Der Kläger muss über eine Magensonde ernährt werden. Es besteht weiterhin der Verdacht der kortikalen Blindheit. Vor diesem Hintergrund bestehen bei dem Kläger schwerste körperliche und gesundheitliche Dauerschäden. Er ist maximal eingeschränkt und wird Zeit seines Lebens rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen sein. Er hat die Fähigkeit verloren, seine eigene Person und seine Umwelt zu erleben und ein aktives, selbstbestimmtes Leben zu führen. Der damit verbundene weitgehende Verlust der Persönlichkeit wiegt schwer.“
- Ende des Zitats –
Derartige Überlegungen sind regelmäßig bei der Bemessung von Schmerzensgeld für Geburtsschäden von den Gerichten anzustellen.
5. Verjährung der Ansprüche auf Schmerzensgeld und Schadenersatz
Die Ansprüche verjähren regelmäßig nach drei Jahren. Dabei setzt die Verjährungsfrist am Ende des Jahres ein, in dem der Schaden entstanden ist.
Voraussetzung für den Beginn der dreijährigen Verjährungsfrist ist, dass der Geschädigte Kenntnis von seinem Anspruch hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte haben müssen. Dies setzt voraus, dass der Geschädigte Kenntnis von den „haftungsbegründenden Umständen“ erlangt hat. In der Arzthaftung bedeutet dies konkret, dass die vertretungsberechtigten Eltern Kenntnis von der Möglichkeit haben, dass ein Behandlungsfehler durch die Hebamme, en Arzt oder das Krankenhaus zu einem Schaden an dem Kind geführt hat. Erst dann beginnt die dreijährige Verjährungsfrist zu laufen.
Macht etwa der Kinderarzt erst nach vier Jahren darauf aufmerksam, dass die Behinderung des Kindes auf einen Behandlungsfehler zurückzuführen ist, beginnt die dreijährige Verjährungsfrist erst zu diesem Datum.
Nach Ablauf der Verjährungsfrist bestehen die Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld zwar weiterhin. Erhebt allerdings die Gegenseite die Einrede der Verjährung können diese nicht mehr gerichtlich durchgesetzt werden. Daher sollten Betroffene frühzeitig handeln und ihre Rechte geltend machen und einen Anwalt für Geburtsschaden aufsuchen.
Björn Weil
Rechtsanwalt für Arzthaftung und Geburtsschaden
Fachanwalt für Medizinrecht in Gießen