Bereits am 02.04.2019 hat der BGH zu Az: VI ZR 13/18 eine Entscheidung getroffen, die viele grundsätzliche Fragen hätte klären können. Leider hat der BGH die Möglichkeit nicht wahrgenommen. Das BVerfG hat die gegen das Urteil des BGH gerichtete Verfassungsbeschwerde mit Beschluss vom 07.04.2022 nicht zur Entscheidung angenommen.
Hintergrund der Entscheidung des BGH war, dass ein Arzt einen dementen, von Entzündungen in Lunge und Gallenblase gequälten alten Mann via PEG – Sonde über Jahre am Leben erhielt. Der Mann war auch unfähig, seinen Willen noch zu äußern. Der alleinige Erbe machte nach dem Ableben seines Vaters geltend, dass sein Vater sich, wenn er noch in der Lage gewesen wäre, seinen Willen zu äußern für das Ableben entschieden hätte. Die Maßnahmen des Arztes hätten lediglich dessen Siechtum verlängert. Rücksprache mit dem gesetzlichen Vertreter des Verstorbenen hat der Arzt nicht gehalten. Der Sohn, als Alleinerbe, verlangte sodann Schadensersatz und Schmerzensgeld. Schadensersatz, weil die jahrelange Behandlung natürlich erhebliche Gelder gekostet hatte und Schmerzensgeld, weil der Vater jahrelang unnötig unter Qualen gelitten habe.
Das Oberlandesgericht (OLG) München (Urt. V. 21.12.2017 – 1 U 454/17) sprach dem aus ererbten Recht klagenden Sohn des Verstorbenen 40.000,- € Schmerzensgeld zu.
Das Landgerichts (LG) München (Urteil vom 18.01.2017 – 9 O 5246/14) hatte in erster Instanz einen Schmerzensgeldanspruch abgelehnt.
BGH: Kein Schadensersatz und auch kein Schmerzensgeld
Der BGH überrascht mit der Entscheidung, dass er sich selbst nicht für entscheidungsfähig hält.
Er führt aus, dass im Arzthaftungsrecht stets der hypothetische Geschehensablauf (also jener bei rechtskonformer Behandlung des Patienten; sprich einem solchen ohne Behandlungsfehler) mit dem tatsächlichen Geschehensablauf zu vergleichen sei. Vorliegend sei die einzige Alternative zu dem leidensbehafteten Siechtum des Verstorbenen nur dessen Tod gewesen. Vergleichsmaßstab für das leidenbehaftete Leben ist nach Auffassung des BGH daher allein der Exitus.
Das menschliche Leben sei aber ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Insbesondere der Staat dürfe nicht über den Wert menschlichen Lebens entscheiden. Es fehle daher an einem ersatzfähigen Schaden.
Abgesehen davon, dass der BGH die Möglichkeit nicht wahrnimmt, festzustellen, welche Aufklärungs – und Behandlungspflichten den Arzt in diesem Stadium des Lebens treffen – was in einer alternden Gesellschaft mit einer fortschreitenden Gerätemedizin sowie Palliativversorgung durchaus von Interesse gewesen wäre – verkennt er völlig die eigentliche Fragestellung des Falles.
Im Medizinrecht ist es völlig unstreitig, dass Behandlungswünsche nicht bindend sind. Es ist aber ebenso völlig unstreitig, dass die Ablehnung einer Behandlung für den Arzt bindend ist.
Um diese Entscheidungen aber fällen zu können bedarf es der ärztlichen Aufklärung. Eine solche ist hier völlig unstreitig nicht geschehen. Der Arzt hat keine Rücksprache mit dem gesetzlichen Vertreter gehalten. Schon dies bewirkt die Rechtswidrigkeit der Behandlung, wenn plausibel ist, dass der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einen ernsthaften Entscheidungskonflikt gerät.
Dies war vorliegend unproblematisch der Fall. Bereits dieser Tatbestand löst die Haftung des Behandlers aus. Insoweit hätte es gar keiner Entscheidung über den „Wert des Lebens“ bedurft. In Wirklichkeit ging es vorliegend alleine um die Autonomie des Patienten.
Immerhin schimmert diese Erkenntnis an einer Stelle des Urteils durch. „Auch wenn dem Patienten sein eigenes Leben als lebensunwert erachte, dürfe der Staat ein solches Urteil nicht fällen“. Noch einmal lieber BGH: Eines solchen Urteils hätte es gar nicht bedurft. Zum Einen stammt in diesem Fall die Bewertung vom Patienten selbst und der BGH hätte sich nur noch mit den Konsequenzen selbiger Bewertung auseinandersetzen müssen. Diese sind aber ja bereits bekannt. Die Ablehnung einer Behandlung ist für den Arzt rechtlich bindend. Lehnt der Patient eine Weiterbehandlung mit dem Ziel der Lebenserhaltung ab, so ist eine entsprechende Behandlung rechtswidrig. Auch dann, wenn die Behandlung der Erhaltung des Lebens dient. Von diesem Ausgangspunkt aus hätte der BGH ohne Weiteres im Hinblick auf die Höhe des Schadensersatzanspruches die Behandlungskosten zusprechen können ohne eine Entscheidung über den Wert des Lebens fälle zu müssen. Doch auch hier drückt er sich mit dem Argument, dass die Behandlungspflichten des Arztes nicht dem Vermögensschutz der Erben dienen würden (Schutzzweck der Norm).
Vorsichtig ausgedrückt hinterlässt diese Argumentation eine ganze Reihe von Fragezeichen. Mit diesem Argument könnte ein Arzt auch entgegen dem Willen des Betroffenen todbringende Arzneimittel verabreichen ohne, dass die Erben Ersatzansprüche für die Medikamentenkosten verlangen könnten. Oder aber Krebsmittel so sehr verdünnen, dass sie unwirksam werden (Apotheker von Bottrop) und die vereinnahmten Gelder sodann behalten. Für Schäden aus pflichtwidriger vertraglicher Handlung (hier: Dienstleistungsvertrag mit dem Arzt) haftet der pflichtwidrig Handelnde immer, wenn er sich nicht exkulpieren (entschuldigen) kann. Die entsprechenden Ansprüche gehen auch auf die Erben über.
Im Hinblick auf das Schmerzensgeld wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, die unnötig erlittenen Qualen zur Bemessung heranzuziehen. Unstreitig hätte der Verstorbene diese ja nicht erlitten, wenn er gestorben wäre. Auch dies erfordert keine Entscheidung über den Wert des Lebens.
Ich könnte noch vieles zu der Entscheidung schreiben. Sowohl in ethischer Hinsicht als auch im Hinblick auf das Medizinrecht / Arzthaftungsrecht. Ich will mich aber mit der Feststellung begnügen, dass der BGH hier Grundsätze der Arzthaftung aufgibt, weil er sich ansonsten genötigt gesehen hätte, ein Menschenleben in Euro zu beziffern. Dies allerdings wäre gar nicht nötig gewesen, hätte er sich einfach nur an die allgemeinen Grundsätze gehalten.
Die Entscheidung des BGH sowie jene des Bundesverfassungsgerichts finden Sie unterhalb dieses Kommentars.
BGH, Urteil vom 02.04.2019 – VI ZR 13/18
Fundstelle: openJur 2019, 27061
Permalink: https://openjur.de/u/2171851.html (https://oj.is/2171851)